Bahá’í World/Volume 5/Vernunft und Glaube
VERNUNFT UND GLAUBE
VON DR. ADELBERT MÜHLSCHEGEL
VERNUNFT und Glaube werden häufig als Gegensatz emfunden, ja sogar als etwas Unvereinbares, sich Feindliches. Die Menschen denken, reden und handelin im täglichen Leben meistens nach dem Verstand, mit Trieben, Affekten und etwas Moral vermischt, was zusammen je nach Temperament und Entwicklungsstufe mehr oder weniger “Vernunft” zum Ausdruck bringt. Andrerseits haben sie danebenher ihren “Glauben,” d.h. die Glaubenslehre ihrer Kirche, die aber ihrem Alltagsdenken und—handeln vielfach widerspricht. So z.B. das Wort Christi: “Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.” Wie wenig wird danach gehandelt! So bleibt vom Glauben nur noch ein Fürwahrhalten der überkommenen Lehre, ein Nichtwidersprechen übrig.
Nun gibt es manche Menschen, darunter nicht die schlechtesten Denker, die sich in ihren Grundsätzen und in ihrem Weltbild nur auf das logisch Beweisbare stützen wollen. Alles andere darüber hinaus, sagen sie, mag Privatsache bleben. So verblast hier der Glaube zur Hypothese oder gar zu einer "Sache für alte Weiber,” die mitleidig belächelt wird.
Auf der Gegenseite aber unter den Frommen und Gläubigen gehen ebenfalls viele irre, nur in ganz andrer Art: Die religiösen Lehren der betreffenden Konfession oder Sekte werden häufig ungeprüft hingenommen und oft wird vor harten Fragen des Nachdenkens in eine seichte Erbauungsstimmung ausgewichen, sofern diese nicht gar in verbohrten Fanatismus umschlägt.
Diese Zustände der Menschheit sind nicht nur unvollkommen, sie sind geradezu gefährlich. Man darf dies nicht unterschätzen. Aus der Geschichte wird uns dies erschreckend klar. In Europa z.B. hatten im Laufe der Jahrhunderte Ketzerverfolgungen und Religionskriege etwa ebensoviel Opfer gefordert, wie die Katastrophe des Weltkrieges. Dieses Elend wäre vermieden worden, wenn in jenen Zeiten unter der Menschheit die Erkenntnis der Glaubenskraft so sehr das Gleichgewicht gehalten hätte, dab Fanatismus, Willkür und Verhetzung durch weltliche und kirchliche Nachthaber keinen Nährboden hätten finden können. Einstweilen, vom 16. Jahrhundert ab, hatte sich wissenschaftliches Forschen und Denken von der Kirche freigemacht. Wohl ist dies zur Ursache des seitherigen Aufschwungs der Naturwissenschaften geworden; andrerseits aber sind in der menschlichen Seele die beiden Prinzipien Glaube und Vernunft immer mehr auseinandergewachsen. Die moderne Zivilisation entbehrte so des Schwergewichtes auf religiöser Grundlage und die ursprünglichen Segnungen dieser Zivilisation sind allzuhäufig von den Menschen in Übel verkehrt worden. Aufklärung wurde Halbbildung, Entdeckerfreude diente dem Eonkurrierenden Imperialismus einiger Grobmächte, technischer, Fortschritt entartate zur Massenfabrikation grausamer Mordinstrumente und zur Unterdrückung der Arbeiterklasse. So ist das Blut, das in der Zeit der französischen Revolution, Napoleons und zuletzt des Weltkriegs und der russischen Revolution geflossen ist, letzten Endes vorwiegend durch dieses andere Extrem des Gegensatzes von Vernunft und Glaube verschuldet worden. Wie einst in den Jahrhunderten vorher das Gnadengeschenk der Religion durch Blutvergieben befleckt worden war, so ist späterhin bis heute die Gottesgabe der Wissenschaft in der geschilderten Art mibbraucht worden und hat Dünkel, Elend und Hab verursacht.
Die Erlösung der Menschheit aus diesem
unwürdigen Zustand ist nicht möglich, ehe
in der Menschenseele Vernunft und Glaube
in einer grundsätzlich anderen, höheren
Weise in Zusammenklang gebracht werden.
Wir müssen klar erkennen, dab Vernunft
und Glaube polare Teile eines Ganzen sind.
Der Mensch braucht beide gleichsam wie die
beiden Flügel seiner Seele. ’Abdu’l-Bahá
sagt: "Er kann nicht mit einem Flügel allein
fliegen. Wenn er versucht, allein mit dem
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Flügel der Religion zu fliegen, so wird er
landen im Schlamm des Aberglaubens. Und
wenn er sich unterfängt, nur mit dem Flügel
der Wissenschaft zu fliegen, so wird er in dem
traurigen Sumpf des Materialismus enden.”
Solche Worte nimmt der schlichte gläubige Mensch dankbar im Herzen auf. Für den kritischen Denker aber ist ein Glaubensinhalt nur dann annehmbar, wenn er der Vernunft nicht widerspricht. Wir wollen daher versuchen, diesen Gegenstand vom naturwissenschaftlichen Gesichtspunkt aus zu betrachten und zugleich auch im Lichte der Bahá’í’-Lehre:
In der ganzen Natur können wir ein ewiges Zusammenspiel der grundlegenden Prinzipien Kraft, Stoff und Form erblicken. Stoff ist das Medium für das Wechselspiel von Kraft und Form. Die Wirkung der Kraft im Stoff wird an der Form erkennbar. Umgekehrt kann die Eigenart der Form Kräfte fesseln oder lösen.
‘Abdu’l-Bahá erklärt in den “Beantworteten Fragen,” dab sich das Geistige in fünf Stufen äubert: als Pflanzengeist, Tiergeist, Menschengeist oder Geist der vernünftigen Seele, göttlicher Geist oder Geist des Glaubens, und Heiliger Geist. Wir wollen nun im Folgenden unsren Blick auf das Wechselspiel von Kraft und Form in diesen verschiedenen Ebenen werfen:
Schon im Mineralreich, z.B. in der Kristallbildung, ist dies deutlich zu erkennen. Anschaulicher wird es jedoch im Pflanzenreich. Wir sehen hier eine geheimnissvolle Kraft, welche die Pflanze zu Wachstum, Blüte und Frucht treibt; wir können sie nicht genau messen, noch sie erschöpfend erklären; sie ist etwas Irrationales. Andrerseits entsteht durch diese Wachstumkraft eine jeder Pflanzenart eigentümliche Form, exakt mebbar und definierbar; sie ist etwas Rationales. Zwischen diesen Beiden, der Kraft und der Form, liegt das, was wir die Form der Kraft und die Kraft der Form nennen können. Das Erstere zeigt sich z.B. als gewisse Wachstumsgesetze wie Heliotropismus u.a. Geradezu rührend ist es, wie eine Pflanze aus dem finstersten Dunkel der Sonne entgegenstrebt, oder wie ein Rankengewächs sich über weite Spannen hinweg nach einem Halt taster. Welcher “Glaube” liegt in diesem Wachstumsinstinkt! Das Letztere, das wir oben die Kraft der Form genannt haben, offenbart sich in der sinnvollen Anordnung der Zellen, welche durch Kanäle, Stützgewebe usw. den aufbauenden Säften die Wege ebnete. Wieviel “Gerechtigkeit” liegt in dieser Planmäbigkeit!
Im Tierreich kommt diese Polarität von Kraft und Form auf höherer Ebene zum Ausdruck. Das Tier vereinight in sich die Eigenheiten des vegetativen Lebens (Wachstum, Säftekreislauf, Atmung usw.) mit den Eigenheiten des Animalischen (Muskulatur, Nervensystem und Sinnesorgane usw.), denen ein primitiver Ansatz von Seele mit Trieben und Instinkten entspricht. Auf dieser Stufe stellen die Triebe den Kraftpol dar, das Irrationale; sie können beim Haustier als Zärtlichkeits- und Anhänglichkeitstrieb bis zu tierischer Liebe und Treue sich veredeln. Die Sinneseindrücke dagegen knönnen wir als den Formpol der Tierseele bezeichnen. Und die Instinkte, die das Tier zum richtigen, d.h. instinktgerechten Verhalten, anleiten, sind das Verbindende zwischen Trieb und Sinneswahrnehmungen. Je intensiver die Tierseele zwischen diesen Polen lebt und Erfahrungen sammelt, umsomehr entwickelt sie sich.
Der Mensch hat in seinem seelisch-
körperlichen Organismus die bisher besprochenen
pflanzlichen und tierischen Qualitäten in
menschlicher Eigenart vereint. Zudem
unterscheidet er sich vom Tier durch
Denkfähigkeit und Ichbewustsein. Daher konnte
Descartes den beides voraussetzenden Satz
“Cogito, ergo sum” (“Ich denke, folglich
bin ich”) zum Ausgangspunkt seiner Philosophie
nehmen. Der Intellekt bedeutet hier den
Formpol, während der Wille, aus dem
tierischen Triebe veredelt, den Kraftpol
darstellt. Tritt dieser Wille zu einem
Gegenstand oder einer Person mehr oder weniger
unabhängig von Verstandesüberlegung auf,
so nennen wir dies Liebe. Ist der Wille durch
eine intellektuelle Anschauung festgelegt, so
ist es ein Glauben oder Streben nach einem
verstandesmäsigen Ziel. Betrachten wir
z.B. einen rein verstandesmäsigen Vorgang
wie das Schachspiel, so sehen wir, das der
Erfolg des Spielers etwa von viererlei
abhängt: erstens, von der Liebe zum Spiel, d.h.
von dem Willen, eine Partie zu beginnen;
zweitens von Glauben, die Partie zu gewinnen,
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wenn er sich auf die bewährten Spielregeln
verläst; drittens, vom genauen Beachten
dieser Spielregeln; viertens, vom Verstand,
der klar beobachten und denken kann. Wir
haben also auch schon auf der Ebene des
Verstandlichen die geistigen Eigenschaften
Liebe, Glaube, Gerechtigkeit, Erkenntnis in
primitiver Art vor uns. Jedoch ist diese Art
auch einem Bösewicht zugänglich.
Der Mensch aber ist zu Höherem berufen. Er soll die Stufe des göttlichen Geistes erreichen. Dann ist der Kraftpol Wille zur göttlichen Liebe geworden, zu einer Liebe im höchsten Sinne des Wortes als Allumfassendes Schöpferisches, geistiges Verbundensein mit aller Kreatur. Dann ist der nur verstandesbedingte Glauben (wie z.B.an die Schachspielregeln) zu jenem machtvollen Glauben gereift, der “Berge versetzen kann,” einer Liebe zu Gott, seinen Propheten und deren Lehre und Gebote, die ganz sich hingibt und dafür eintritt auch da, wo der Verstand es nicht begreift, etwa vergleichbar dem grenzenlosen Vertrauen der reinen Kindesseele zu den Eltern. Dann ist das Befolgen von Verstandesüberlegungen zur religiösen Gerechtigkeit verwandelt, welche aus freiem Willen durch Befolgen der Lehren und Ge bote zur Selbstständigkeit führt. Im Sinne des Wortes Bahá’u’lláh’s: “O Sohn des Geistes! Die Gerechtigkeit ist in Meinen Augen vor allem andern das Köstlichste. Wenn du nach Mir verlangst, dann wende dich nicht vor ihr ab und vernachlässige sie nicht, damit Ich dir Mein Vertrauen schenke. Mit Hilfe der Gerechtigkeit wirst du mit deinen eigenen Augen und nicht mit den Augen andrer sehen, du wirst alles mit deinem eigenen Verständnis erkennen und nicht mit dem deines Nebenmenschen. Erwäge in deinem Herzen wie du sein solltest. Wahrlich, die Gerechtigkeit ist Meine Gabe für dich; sie ist das Zeichen Meiner liebevollen Güte zu dir; deshalb halte sie dir stets vor Augen.” Dann ist schlieslich auch das logische Gehirndenken zur erleuchteten, intuitiven Erkenntnis verklärt. Wie auf jeder der bisher beschriebenen Stufen so hängt auch auf dieser Stufe die Entwicklung der menschlichen Seele stark davon ab, das Kraft und Form sich in reinster und engster Art austauschen, das jede Erkenntnis zu noch mehr Liebe und Glaube führt: und das Liebe und Glaube zu Gerechtigkeit und Erkenntnis befähigen.
Ueberlicken wir noch einmal die Entsprechungen der verschiedenen Ebenen, so ergibt sich folgendes Schema:
| göttlicher Geist: | Liebe | Glaube | Gerechtigkeit | Erkenntnis |
| menschl. Geist: | Wille | Verstandesmäsiger Glaube | verstandgerechtes Handeln | Verstand |
| Tiergeist: | Trieb | Instinkt | instinktgerechtes Handeln | Sinne |
| Pflanzengeist: | Wachstumskraft | Wachstums-Instinkt | kraftleitende Form | Form |
Wir sehen also, das Glaube und Vernunft
keine unüberbrückbaren Gegensätze sind.
Vielmehr bedingen sie beide die Entwicklung
der Menschenseele und sind zugleich deren
Ausdruck. Wie der Mensch Ebendild Gottes
und der Welt ist, so haben auch diese beiden
Eigenschaften in allen Reichen der Natur
ihr Spiegelbild.
Ein Philosoph, der für seine Ueberzeugung eintritt und seine Lehren lebt, wird durch Erfahrungen und Leid so geläutert, dab er dadurch erst recht wieder zu höheren Erkenntnissen kommt, während er sonst der Gefahr verfällt, in unrealen gedanklichen Spekulationen sich zu verirren. Umgekehrt wird ein gläubiger Mensch, wenn er die Lehren seines Bekenntnisses lebt, durch diese “Gerechtigkeit” zu selbständiger Erkenntnis gelangen und so imstande sein, diese Lehren auf breiterer Erfahrungsgrundlage mit der Vernunft in Einklang zu bringen; sonst bliebe sein Glaube leicht in sentimentaler Frömmelei oder in starrem Fanatismus stecken.
Im neuen Zeitalter Bahá’u’lláh’s werden neue Menschen entstehen. Ihnen wird dies nicht mehr Problem und Sehnsucht sein, sondern selbst-verständliche, gelebte Wirklichkeit.
Bahá’ís of Sisán. Persia.