Bahá’í World/Volume 6/Bahá’í-Glaube und Christentum, by Dr. Engen Schmidt
BAHÁ’Í-GLAUBE UND CHRISTENTUM
BY DR. EUGEN SCHMIDT
EINE vergleichende Betrachtung geschichtlich verschiedener Religionen setzt die grundsätzliche Klarstellung voraus, nach welchen Gesichtspunkten der Vergleich vorgenommen werden soll. Wir gehen von der Erkenntnis aus, dass alien geschichtlichen Religionen eine gemeinsame geistige Grundlage eigen ist. “Diese Grundlage muss notwendigerweise die Wahrheit sein und kann nur eine Einheit, nicht eine Mehrheit bilden.”1 Diese Einsicht soll gerade durch die Untersuchung des Verhältnisses zwischen der Sendung Bahá’u’lláh’s und dem Christentum erhärtet werden. Die deutliche Herausstellung des Ausgangspunktes unserer vergleichenden Betrachtung dient dazu, bei der Gegenüberstellung beider Religionen den Blick von Anfang an auf das Wesentliche und nicht auf das dem geschichtlichen Wandel Unterworfene im religiösen Geschehen zu richten.
Wir gehen nämlich von dem zweifachen entscheidenden Gesichtspunkt aus, class jeder Religion einerseits ein geistig zeitloser, andererseits ein zeit- und entwicklungsgeschichtlich bestimmter Gehalt zugrunde liegt. Der erstere besteht in dem in den Heiligen Schriften niedergelegten “Wort Gottes,” das seinem Wesen nach nicht veralten oder erstarren kann, der letztere umfasst die äusseren Gesetze und Gebote, welche immer den entwicklungsgeschichtlich gegebenen Erfordernissen in Bezug auf die Lebensformen der Menschen und Völker entsprechen und deshalb durch jede neue Gottesoffenbarung eine Aenderung, Erweiterung, Ergänzung und Fortführung erfahren. Den Wachstums— und Verfallsbedingungen der geschichtlichen Religionen sind deshalb nur ihre äusseren Formen,2 niemals
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1Ein Wort ‘Abdu’l-Bahá‘s, Bahá’í-Perlen, Stuttgart 1922, S. 4.
2Religionsübung, “Gesetze,” soziale Normen. institutionelle Einrichtungen, u.s.w.
aber ihr geistiger, unwandelbarer Gehalt unterworfen. Der Verfall oder die Erstarrung religiöser Lebensformen (Dogmatismus, Orthodoxie, Ausschliesslichkeitsanspruch) haben, wie die Geschichte zeigt, eine Verschüttung und menschliche Entstellung der göttlichen Lehren zur Folge. Der Schwerpunkt jeder Offenbarungsreligion liegt nicht auf ihren geschichtlichen Daten, Ereignissen und Formen, sondern einzig und allein in ihrem inneren und unverlierbaren Wahrheitsgehalt. Diesen immer wieder Von Neuem zu verkünden und von wesensfremden Einfliissen und menschlichen Zutaten zu befreien, also das ewig schöpferische Wort Gottes entsprechend der Fassungskraft und Entwicklungsstufe der Menschen wieder zu verkünden, ist der gemeinsame Auftrag aller Manifestationen und Propheten.
In der Aufeinanderfolge der Manifestationen und Propheten erkennt der tiefer Schauende einen wunderbaren Erziehungsplan Gottes für die Menschheit, nach dem sich die geistige Entwicklung der Menschheit stufenweise vollzieht. Jede göttliche Manifestation wird so zum Erzieher der Menschheit für einen zeitlichen Erziehungsabschnitt, weshalb jeder Gottgesandte an die vorausgegangene Offenbarung anknüpft. Auf den Zyklusgedanken der fortschreitenden Offenbarung des Wortes Gottes kann hier mangels Raum nicht weiter eingegangen werden.3
Dass im vorgenannten Sinne die Sendung Bahá’u’lláh’s die Lehre Christi bestätigt, erfüllt, erneuert und zur Heraufführung einer neuen gottgewollten Weltordnung fortführt, soll nun der nachfolgende Vergleich zeigen.
Zuerst eine Charakterisierung des geistigen Gehalts beider Offenbarungsreligionen.
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3"Das Wort Gottes in seiner fortschreitenden Offenbarung." “Sonne der Wahrheit,” XIV, 10, S. 76 ff.
Christus kam, um im engeren Sinn die mosaische Gesetzesreligion aus ihrer starren Umklammerung zu befreien und in eine lebendige Gesinnungs-, Tat- und Liebesreligion überzuführen und um im weiteren Sinn der ganzen Menschheit den Weg zu Gott zurück zu zeigen, der über die Nächstenliebe führt und die Einheit Gottes zum Ausgangs- und Endpunkt hat. Seine Sendung War ein urgewaltiger Ruf zur Selbstüberwindung und völligen Einordnung des Menschen in den von Ihm verkündeten Willen Gottes. Er verlegte den Schwerpunkt religiöser Lebensführung nach innen4 und geisselte jeden nur formgerechten Schein von Frömmigkeit. Er brachte kein abgerundetes Lehrgebäude, zerbrach erstarrte Dogmen und verwarf überholte äussere Gesetze. Die von Ihm verkündete Wahrheit kleidete er in Gleichnisformen mit überzeitlichem Charakter und allegorischsymbolischer Bedeutung. Seine Worte verpflichteten zu eigenem Denken und persönlicher Entscheidung. Die menschheitliche Bedeutung des Christentums liegt in der Sendung Christi, durch welche die Gottesund Nächstenliebe unlöslich zu einem und dem vornehmsten Gebot auf dem Fundament der Einheit Gottes wurden.5 Die Bergpredigt Christi weist den Weg des Einzelnen zur Erfüllung dieses zweifachen Gebots. Sie hat die Selbstüberwindung und völlige Einordnung des Menschen in den Willen Gottes zum Inhalt, welche eine innere Wiedergeburt und zu Letztem bereites Heldentum aus innegewordener Verbundenheit mit Gott, dem Vater und höchsten Gesetzgeber erheischt. Die Verwirklichung des von Ihm verheissenen Reiches Gottes bindet Christus an den Vollzug des Willens Gottes. Darin liegt die fordernde Gewalt Seiner Sendung, welche jedwede Glaubens- und Werkgerechtigkeit ausschliesst. “Es werden nicht alle, die zu Mir sagen: Herr, Herr! in das Himmelreich kommen, sondern die den Willen tun Meines Vaters im Himmel.”6 Die sozialen Ausfolgerungen der Botschaft Christi ergeben sich vor allen aus der Bergpredigr.
Das Leben Christi war ein einziger Beweis
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4"Das Himmelreich ist inwendig in euch.” 5Vergl. Matth. 12, 29-31. 6Matth. 7, 21.
Seiner Worte: Höchste Lebensbejahung aus dem Auftrag Seiner Sendung heraus. Sein Leiden und Sterben stellen einerseits die unerbittlichste und erhabenste Konsequenz Seines Gehorsams Gott gegenüber und andererseits den Ausdruck Seiner unendlichen Menschheitsliebe dar. So waren Seine Worte und Sein Leben eine unzertrennliche Einheit Seiner göttlichen Berufung, der Menschheit “Weg, Wahrheit und Leben” zu werden.
Fassen wir zusammen: Das Leben und die Lehre Christi zeigen eindringlich die untrennbare Verbindung von Gottes- und Nächstenliebe, von Religion und tatfreudiger Sittlichkeit, wobei die Selbstverleugnung die Grundforderung zu sittlichem Handeln und dem Befolgen der göttlichen Gesetze wird. Christus wies von neuem den Weg, das Reich Gottes zu verwirklichen: “Selig sind, die Gottes Willen tun.”
Wie stellt sich nun der Bahá’í—Glaube in seinen geistigen Grundzügen demgegenüber dar? Er ist keine neue Religion, sondern will alle geschichtlichen Offenbarungsreligionen auf ihre gemeinsame geistige Grundlage, das Wort Gottes, wie es durch die göttlichen Manifestationen und Propheten immer wieder verkündigt und gelebt wurde, zurückführen.
Bahá’u’lláh sagt: “Die Sonne der Wahrheit ist das Wort Gottes, von dem die Erziehung der Menschen im Reich der Gedanken abhängig ist. Es ist der Geist der Wirklichkeit und das Wasser des Lebens. Ihm verdanken alle Dinge ihr Dasein. Es offenbart sich immer nach der Fähigkeit und Farbe des Spiegels, durch den es widergespiegelt wird. Wird zum Beispiel sein Licht auf den Spiegel des Weisen geworfen, dann bringt es Weisheit zum Ausdruck; Wird es von dem Geist des Künstlers widergespiegelt, so schafft es neue und schöne Künste; leuchtet es durch den Geist des Gelehrten, dann offenbart es Wissen und enthüllt Geheimnisse.
Alle Dinge der Welt erheben sich durch
den Menschen und kommen durch ihm zum
Vorschein. Durch ihn finden sie Leben und
Entwicklung, und der Mensch ist bezüglich
seines geistigen Daseins von der Sonne des
Wortes Gottes abhängig. Alle guten Namen
und edlen Eigenschaften sind Resultate des
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Wortes Gottes. Das Wort ist das Feuer,
das in den Herzen der Menschen glüht und
alles verbrennt, was nicht von Gott ist. Der
Geist der Liebenden ist immer von diesem
Feuer entflammt. Es ist das Wesen des
Wassers, das sich in der Form des Feuers
offenbart. Aeusserlich ist es brennendes
Feuer, innerlich dagegen ruhiges Licht.
Dies ist das Wasser, das alien Dingen Leben
gibt.”7 Bahá’u’lláh ruft die Menschen von
neuem auf, die Gebote Gottes zu befolgen,
weshalb Er das Wesen der Religion damit
bezeichnet, “das anzuerkennen, was der Herr
offenbarte und zu befolgen, was Er in
Seinem mächtigen Buch verordnet hat.”
Auch er wendet sich gegen erstarrte
Religionsformen und —Dogmen. “An diesem
Tag muss der, welcher das Licht der Sonne
der Wahrheit sucht, seinen Geist von den
Ueberlieferungen der Vergangenheit frei
machen; er muss sein Haupt mit der Krone
der Trennung und seinen Tempel (Köpper)
mit dem Kieid der Tugend schmücken, dann
wird er zu dem Ozean der Einheit und
Einzigkeit Gottes gelangen. Das Herz müss
von dem Feuer des Aberglaubens frei
werden, damit es das helle Licht der Gewissheit
empfangen und die Herrlichkeit Gottes
begreifen kann.”8 Er fordert die sittliche
Tat als Beweis wahren Glaubens. “An
diesem Tag müssen die Menschen ihrem
Gott mit Reinheit und Tugenden dienen.
Die Wirkung des durch den Lehrer
gesprochenen Worts ist abhängig von der
Reinheit seiner Absichten und seiner
Trennung vom Irdischen. Manche begnügen
sich nur mit Worten, aber die Wahrheit der
Worte wird durch Taten bezeugt und hängt
von der Lebensführung ab. Taten offenbaren
die Stufe des Menschen. Die Worte
müssen in Uebereinstimmung mit dem sein,
was aus dem Munde des Willens Gottes
hervorgeht und in den heiligen Schriften
berichtet ist.”9 Bahá’u’lláh erneuert und
erweitert das ewige Gesetz der Liebe. Seine
Worte sind: “Das erhabenste Wort für
Harmonie und Liebe ist: Alle sind von Gott.
Dies erhabene Wort gleicht dem Wasser,
welches das in den Herzen verborgene Feuer
des Hasses und der Erbitterung löscht.
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7Worte der Weisheit, S. 57-58.
8Worte der Weisheit, S. 60.
9Worte der Weisheit, S. 61-62.
Durch dies einzige Wort werden die verschiedenen Religionen zu dem Licht der Einheit gelangen. Wahrlich, Er sagt die Wahrheit und führt zum rechten Weg.”10 Wie ‘Abdu’l-Bahá sagt, ist jeder Mench als ein Zeichen Gottes zu betrachten.
Die Lehr Bahá’u’lláh’s ist nach den Worten Shoghi Effendi’s “in ihrem Ursprung göttlich, in ihren Zielen allumfassend, in ihrem Ausblick weit, in ihrer Methode wissenschaftlich, in ihren Grundsätzen menschendienend und von kraftvollem Einfluss auf die Herzen und Gemüter der Menschen." Ihre besondere Bestimmung liegt darin, nicht nur den unverfälschten und unwandelbaren Sinn und Gehalt aller Reiigionen von neuem zu bestätigen, sondern darüber hinaus die kommende Weltordnung auf Grund der geistigen Einheit der Menschheit heraufzuführen. Gegenüber dem Christentum ist deshalb der Sendung Bahá’u’lláh’s die ziemlich konkrete Lösung sozialer und gesellschaftlicher Fragen eigen, wie sie sich seit dem Auftreten Christi entwicklungsgeschichtlich immer dringender stellte, vor allem durch den technischen, politischen und wirtschaftlichen Strukturwandel der Welt besonders seit dem 18. Jahrhundert. Die Sendung Bahá’u’lláh’s stellt die Offenbarung des Wortes Gottes in einer zeitgeschichtlich neuen und einzigartigen Synthese persönlicher und sozialer Lebensgestaltung dar, die Liebe und Gerechtigkeit zu den Grundsätzen des menschlichen Gemeinschaftslebens macht. Der Schlüsselgedanke des Bahá’í-Glaubens ist deshalb Einheit und Entwicklung als organische Verbundenheit alles Seins und als ewig neuschöpferischer Lebensrhythmus. Die in den Lehren Bahá’u’lláh’s zum Ausdruck kommende Welt- und Lebensanschauung steht mit dem Errungenschaften der Wissenschaft ausdrücklich in Einklang, weshalb auch eine selbständige vorurteilsfreie Wahrheitserforschung mit dem “Fackellicht” des Verstandes gefordert wird.
Auch Bahá’u’lláh widerfuhr das tragische Geschick des Gottgesandten, von Seinen Zeitgenossen verkannt und aufs heftigste bekämpft zu werden, sodass Sein Leben bei Beginn der Erklärung seiner Berufung. Seine Verfolgung, Verbannung und jahrzehntelange,
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10 Die Bahá’í Offenbarung, Stuttgart 1925, S. 144.
strenge Gefangenschaft im Gefolge hatte. Eine nachträgliche Verfälschung oder menschliche Umbiegung des Wahrheitsgehalts Seiner Sendung hat Bahá’u’lláh durch die Bestimmung ‘Abdu’l-Bahá’s, Seines ältesten Sohnes, als den allein berufenen Erklärer und Ausleger Seiner Worte und als das vollkommene Lebensvorbild für den Menschen in religionsgeschichtlicher Einzigkeit unterbunden.
Dass die Wahrheitssätze des Christentums und des Bahá’í-Glaubens sich lückenlos decken, braucht nach dem Gesagten nicht weiter betont zu werden. Wo liegen nun aber die Gründe für die Erneuerungsbedürftigkeit des Christentums unserer Zeit? Nimmermehr in einem angeblichen Ueberholtsein seines inneren Gehalts, sondern in der Tatsache, dass der Kern der Sendung Christi im Laufe der Jahrhunderte immer mehr verschalt wurde. Schon in den ersten Jahrhunderten nach Christi Geburt setzte die tragische Einzwängung der lebenswuchtigen und sittlich zwingenden Worte Christi in dogmatische und institutionelle Formen ein.11 Die Verkündigung des Christentums wurde nach der Seite menschlich gefassten Glaubens hin verlagert, sodass der Absolutheitsanspruch, welcher in der Wahrheit des Christentums als solchern begründet liegt, in der Form des Glaubens, in Dogmen und Bekenntnissätzen geltend gemacht wurde. Die Spaltungen innerhalb des Christentums gehen nicht auf die reine Lehre Christi, sondern nachweislich auf die Schaffung und die Ausdeutung der Sakramente, die Bibelauslegung und den Absolutheitsanspruch der katholischen Kirche zurück. Eine ausführliche Kennzeichnung des Katholizismus und Protestantismus, den Haupt ausprägungen des geschichtlichen Christentums, müssen wir uns hier versagen. Im Mittelpunkt des Katholizismus steht der Anspruch der Kirche als dem Reich Gottes und dem Leib Christi mit dem Papst, der die sichtbare Verkörperung der kirchlichen Einheit in der seit dem Vatikan-Konzil von 1870 ausgesprochenen Unfehlbarkeit darstellen soll. Ohne die “allein selig machende” Kirche gibt es kein Heil. "Sie ist in objektivem sachlichem Betracht der ordentliche
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11Vergl. Christentum in Geschichte und Gegenwart, Frankfurt 1933, S. 10-12.
Heilsweg, die einzige ausschliessliche Lichtquelle, durch die alle Wahrheit und Gnade Christi in die raum—zeitliche Welt einströmt.”12 Dem Katholizismus ist eine sakramentale Werkgerechtigkeit eigen, welche als Massstab der Frömmigkeit die Kultustreue wählt und den “Glauben” zu einem “für wahr halten” macht.
Demgegenüber lehnt der Protescantismus den Autoritätsgedanken ab und erkennt wahren Glauben in dem Vertrauen zu Gott und Seinem Wort. “Das Wort Gottes ist das Heiligtum über alle Heiligtümer, ja, das Einige, das wir Christen wissen und haben” (Luther). Die Verlegung des Schwerpunktes der Frömmigkeit auf den Glauben als innerer Vorgang hatte aber im Protestantismus die Zurückdrängung des Tangedankens, der Wandlungs- und Umbildungskraft der Religiosität im diesseitigen Leben zur Folge. Kennzeichnend dafür ist der Glaubensmässige und tatarme Inhalt des Apostolischen Bekenntnisses. Daraus entstand eine Glaubensgerechtigkeit, welche den Einzelnen immer weniger zwang, seine religiöse Haltung in alle Lebensbereiche tatfreudig hineinzutragen.13
“. . . auch werden wir alle nach und nach aus einem Christentum des Wortes und Glaubens immer mehr zu einem Christentum der Gesinnung und Tat kommen.”14 Dieses Wort Goethes zeigt an, worauf es bei der unumgänglichen Erneuerung des Christentums ankommt. Ansätze zu dieser Erkenntnis sind zweifellos vorhanden.15 Eine entscheidende Um- und Neubildung des Christentums als wieder lebendige, in das innere und äussere Geschehen der Völker hineinwirkende Religion erheischt aber einen neuer und mächtigen Durchbruch der göttlichen Wirklichkeit.
“Die Lehre Christi leuchtete im Licht der Wehrheit; ihre Anhänger wurden gelehrt, alle Menschen als Brüder zu lieben, keine Furcht zu haben, auch nicht vor dem Tod. Sie wurden gelehrt, ihren Nächsten zu lieben, sich selbst und ihr Eigeninteresse dem allgemeinen Wohl ihrer Mitmenschen zu opfern. Das erhabene Ziel Jesu
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12 Ebenda, S. 267.
13 Ein Versuch in dieser Richtung lag in dem englisch-amerikanischen Calvinismus.
14Gespräche mit Eckermann 11. 3. 1832.
15Vergl. z. B. Alexander Graf Hoyos, "Die Neugeburt der Menschheit,” der Leuchter 1921-22, S. 99 ff.
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Christi war, die Herzen aller Menschen zu Gottes
strahlender Wahrheit zu führen. Wenn die
Nachfolger Christi Seine Lehre treu und aufrichtig
bis auf den heutigen Tag befolgt hätten,
dann wäre die Erneuerung der görtlichen Botschaft,
die Wiedererweckung der Christenheit
nicht notwendig geworden, denn eine grosse
herrliche Kultur würde jetzt auf der Welt
Herrschen und wir hätten das Himmelreich auf
Erden . . .”16
Die Erneuerung und Reinhaltung des Christentums von menschlichem Beiwerk liegt dem Ruf Bahá’u’lláh’s mit zugrunde. “Durch das Erscheinen Christi wurden die göttlichen Lehren in Uebereinstimmung mit der Kindheitsstufe der menschlichen Rasse gegeben. Die Lehren Bahá’u’lláh’s haben dieselben grundlegenden Prinzipien, tragen jedoch dem Reifezustand der Menschheit und den Erfordernissen dieses Zeitalters Rechnung.” (‘Abdu’l-Bahá.)
Die oft gestellte Frage, ob Bahá’u’lláh beanspruche, grösser zu sein als Christus, erweist sich als gegenstandslos, wenn der tiefste Sinn der Manifestation erkannt wird. Nach den wiederholten Erklärungen Bahá’u’lláh’s and ‘Abdu’l-Bahá’s sind die Manifestationen Gottes die Aufgangspunkte einer und derselben Sonne, d.h. die Sonne der Wirklichkeit ist eine, Aufgangsorte hat sie jedoch jahlreiche. So ist das Wort Gottes im Wandel der Zeiten das ewig gleich bleibende, offenbart sich aber als Sonne der Wahrheit in verschieden benauuten vollkommenen Spiegeln, mit welchen die Gottgesandten symbolisch vergleichen werden können. Deshalb charakterisiert, ‘Abdu’l-Bahá Christus als das Wort Gottes in seiner vollen und uneingeschränkten Bedeutung.17
Die Einsicht der gemeinsamen geistigen Grundlage der Offenbarungsreligionen zeigt
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16SdW. Jahrg. X, 7, S. 93.
17Vergl. "Unser Glaube an Christus," Worte ‘Abdu’l-Bahá’s, SdW. Jahrg. XIV, 10, S. 88.
dem Menschen den Weg, geschichtliche Fehlentwicklungen als solche zu erkennen und den Weg zu einer wahren religiösen Verständigung frei zu machen. Der Bahá’í-Glaube unterscheidet nicht nach Bekenntnissen, sondern schafft das einigende Band zwischen allen wahrhaft religiösen Menschen. Aus diesem Grunde sagt ‘Abdu’l-Bahá, dass wer nach den Lehren Christi handelt, Bahá’í ist. Das Fundament des Christentums und des Bahá’í-Glaubens ist das Wort Gottes, welches Bahá’u’lláh einer religiös pfadlosen Menschheit als Auftrag Gottes neu, mächtig und verpflichtend verkfündigte. Wer unvoreingenommen und vorurteilsfrei genug an die Schriften Bahá’u’lláh’s und ‘Abdu’l-Bahá’s herangeht, wird darin die Lehre Christi in unmittelbarer, ergreifender und neuer Gewalt wiederfinden und verstehen lernen, weshalb das Christentum durch die Sendung Bahá’u’lláh’s seinem inneren Gehalt nach eine neue Bestätigung und Vertiefung und seiner äusseren Wegführung nach eine entwicklungsgemässe Erweiterung erfahren muss.
Die so viel Streit und Spaltung veranlassten christlichen Dogmen und Bekenntnisinhalte verlieren ihre Enge und Unwissenschaftlichkeit. Sie erfahren durch den Bahá’í-Glauben ihre wahre innere und symbolische Deutung. Der Gedanke der Dreieinigkeit, das Mysterium der Erlösung, die Auferstehung und Wiederkunft Christi werden dadurch lebendige Bestandteile des vielzu theologisch gefassten Christentums. Die Botschaft Christi wird durch die Weltgeschichtliche Sendung Bahá’u’lláh’s wieder in unmittelbare Lebensnähe zurückgeführt, um alle Bereiche menschlichen Tuns und Handelns in die letzte und höchste Bezogenheit Mensch-Gott einzubetten.
Bahá’ís Attending Annual Summer School, Esslingen, Germany, 1935.