Bahá’í World/Volume 5/Der Sinn Unserer Zeit

From Bahaiworks

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DER SINN UNSERER ZEIT

VON HERMANN GROSSMANN

"Dies ist ein neuer Zeitkeis menschlicher Macht. Alle Horizonte der Welt sind erleuchtet, und die Welt wird wirklich wie ein Garten und Paradies werden.

SUCHEN und Tasten geht durch die Welt, Unrast, Ungewissheit und Sorgen halten die Menschheit gefangen. Auf den verschiedensten Gebieten des Lebens sehen wir Altes, Ueberkommenes, zerbrochen am Boden liegen, die alte Ordnung erzittert und stürzt krachend im Toben der entfesselten Elemente zusammen. Und doch ist Plan in dem allen: aus Suchen und Tasten erwächst eine neue Entwickelung zur Vollendung und Reife.

Denn das ist der Sinn unserer Zeit: ein Wendepunkt in der geistigen Entwicke lungsgeschichte der Menschheit. Ein zaghaftes Frühlingserwachen zunächst aus der Starre des Winters und doch schon ein Ansatz zu neuem, kraftvollen Reifen: ein Vogel Phönix, der sich in seiner verlorenen Schönheit verbrennt, um aus der Asche in grösserer Schönheit neu zu erstehen.

Es ist nicht der erste Wendepunkt in der Geistesgeschichte der Menschheit. Durch Jahrtausende hindurch wiederholt sich das Spiel bei den verschiedenen Kulturen und Völkern. Moses und Zoroaster bezeichneten solche Wenden, Christus erschien mit neuer Kraft im Kulturzusammenbruch der hellenistisch-römischen Welt, während in Arabien Muhammeds mahnende Stimme den Wandel hervorrief.

Einst war die Welt durch natürliche Schranken, Gebirge, Ströme und Meere in zahllose Menschheitsinseln zergliedert, und jede dieser Inseln entwickelte für sich einen Geist: und eine Kultur, die eine nur wenig von der anderen beeinflusst. Verschiedene Lebensbedingungen schufen verschiedene Formen des Lebens, in der Lebensform schlugen Sitte, Anschauung, Wesen und Kultur ihre Wurzeln und verstärkten zunächst die natürlichen Grenzen der Gruppen und Völker. Ihre Entwikelung wurde verschieden, für jedes ergaben sich zu anderen Zeiten andere Wenden, aber doch waren alle die verschiedenen Wenden Teile eines einheitlichen Planes. Denn der Weg der Natur ist der Weg zur Vollendung und Reife. Er vollzieht sich bei der Pflanze in jedem Jahr von der Knospe bis zur Frucht, aber er vollzieht sich bei ihr auch über die Jahre hinweg vom ersten, zarten Keim bis zum kräftigen Baum mit seiner hundertfachen Verzweigung. Jeder Wendepunkt in der geistigen Menschheitsentwickelung brachte ein Knospen, Wachsen und Reifen, und wenn auch die Frucht am Schluss wieder abfiel, so war sie doch nicht vergeblich gereift, denn über der Starre und Stille des Winters hat sich dann immer der neue Keim vorbereitet, bis er im neuen Frühling hervorbrach und ein neuer Wendepunkt wurde. Mose Lehre verfiel in den Menschen in Veräusserlichung und Verengung, aber Christi Lehre hat daraus sich erhoben. Alte Weisheit der Weden konnte vergehen, aber die hohe Weisheit Buddhas wurde statt ihrer geboren. Sabäischer Glaube war in Aberglauben versunken, doch Muhammed erhob ihn in grösserer Reinheit. Sooft aber ein neuer Wendepunkt folgte, war er ein Meilenstein in der geistigen Entwickelung der Menschheit, ein Zeichen, um wieviel sie seit dem letzten Wendepunkt—trotz vorübergehenden Stillstandes oder gelegentlich auch wohl scheinbaren Rückschritts—vorankam. Und immer kam sie für den, der zu erkennen bemüht ist, voran. Die verschiedenen Kulturen und Völkergruppen jedoch sind mit ihren verschiedenen Wenden wie verschiedene Teile eines einzigen Baumes: Wurzeln, Zweige und Laubwerk. Jedes hat eine Aufgabe für sich, aber alle haben sie auch eine Aufgabe gemeinsam: die Entwickelung des Baumes, von dem sie alle ein Teil sind.

Gebirge, Ströme und Meere trennten die Menschheit. Heute haben Eisenbahn, Dampfschiff, Auto und Flugzeug, Fernsprecher, [Page 572] Zeitung und Film die Schranken überwunden, und die Menschheit bildet, mag sie sich auch noch so sehr dagegen verschliessen, eine einzige Einheit. Der Orient studiert Europas Kultur, und das Abendland holt sich geistige Weisheit des Orients herüber. Ein ständiger Austausch schrweisst die Kulturen zusammen. So ist heute nicht mehr die Zeit

Hájí Muḥammad-Karím Khán, arch-enemy of the Báb. (Refer to Kitáb-i-Íqán, p. 184)

verschiedener, örtlich umzeichneter Wenden, vielmehr ein einziger grosser Wendepunkt für eine geeinigte Menschheit.

Freilich: nicht ohne Widerstand weichen die trennenden Mauern Vorurteile aller Art, Eigennutz und Kurzsichtigkeit heisst es zuvor überwinden. Hart prallen die Gegensätze noch einmal zusammen, Revolutionen und Umwalzungen sind auf allen Gebieten die Folge, aber aus beiden erkennen wir die Evolution, die zur Höhe emporführt. Und dies-

malist es ein hohes Ziel, denn die Menschheit hat einen Jahrtausende langen Weg hinter sich, Stein um Stein haben zahllose Wenden getürmt; der Stein, dere sich heute darauf baut, ist der letzte, der Schlussstein, und sein Name ist “Vollendung und Einheit.”

Jeder Wendepunkt hat seinen Denkstein besessen. In den grossen Manifestationen der

göttlichen Geisteskraft, einem Moses, Zoroaster, in Christus und Muḥammad finden die Wenden ihren Ausdruck. Heute ist Bahá’u’lláh der gewaltige Denkstein. Seit zwei Generationen durchweht der Geist seiner Lehre, der Bahá’í-Lehre, die Welt, wie einst Christi Geist und Muḥammads Kraft die Völker durchziebebte. Und was an Suchen und Tasten, an Werden und Entstehen heute die Erde durchziehen mag, aus seinen Werken glüht uns der Funke zündend entgegen, [Page 573] zugleich als ein Finden und Erkennen uralter, ewiger Weisheit und Wahrheit.

“O Menschen! Die Pforten des Gottesreiches sind aufgesprungen, die Sonne der Wahrheit erleuchtet das Weltall, die Brunnen des Lebens quellen hervor, der Morgen des Erbarmens ist angebrochen, das grösste und köstlichste Licht strahlt, um in die Herzen der Menschen zu leuchten. Wacht auf und hört auf die Stimme des Herrn, der aus allen Teilen des erhabeneen Reichs ruft: Kommt zu Mir, o Menschenkinder! Kommt zu Mir, o ihr, die ihr dürstet und trinkt von dem süssen Wasser, das wie ein Giessbach über alle Teile des Erdballs herabstürzt! Nun ist es Zeit! Nun ist die ausersehene Zeit!” (‘Abdu’l-Bahá).

Es ist das Wesen der Bahá’í-Lehre, dass sie uns die inneren Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Gottesoffenbarern und die einzige grosse Einheit, die sie alle bilden, bewusst macht, dass sie uns untertaucht in den ewig fliessenden Quell göttlicher Geisteserneuerung und teilhaftig werden lässt an der Kraft, die aus der Manifestation Seines Schöpferwillens hervorgeht. “So sind,” sagt ‘Abdu’l-Bahá, "die heiligen Manifestationen Gottes die Mittelpunkte des Lichtes der Wirklichkeit, der Quellen der verborgenen Geheimnisse und der Gaben der Liebe. Sie strahlen wieder in der Welt der Herzen und Gedanken und giessen ewige Gnade über die geistige Welt aus. Sie geben geistiges Leben und leuchten mit dem Lichte der Wirklichkeit und wahren Bedeutung. Die Erleuchtung der Gedankenwelt entspringt diesen Mittelpunkten des Lichtes und Quellen der verborgenen Geheimnisse. Ohne die Gaben ihres Glanzes und die Anweisungen dieser heiligen Wesen wäre die Welt der Seelen und Gedanken in undruchdringlichem Dunkel, ohne die unwiderleglichen Lehren dieser Quellen der Geheimnisse würde die Menschheit zum Tummelplatz tierischer Gelüste und Eigenschaften, das Sein aller Dinge unwirklich werden und kein wahres Leben bestehen. Darum heisst es im Evangelium: ‘im Anfang war das Wort,’ das heisst, dass es die Ursache war allen Lebens.”1

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1Beantwortete Fragen, Kap. 42.

Unter dem Einfluss der Manifestationen findet die Menschheit in allmählichem Fortschritt Erlösung aus ihrem Zwiespalt, aus den inneren und äusseren Nöten, sie selber aber muss helfen am Werk der Erlösung, indem sie die Lehren der Manifestationen beachtet und ihrer Verwirklichung nachstrebt, denn nur “wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen” (Goethe). “Liebe Mich,” heisst es in den Verborgenen Worten Bahá’u’lláh’s, “damit Ich dich liebe. Wenn du Mich nicht liebst, kann Meine Liebe niemals zu dir gelangen. Merke dir dies, o Diener!” .

Allein, der Bahá’í-Gedanke erhebt sich weit über menschliche Verengung und Dogmen. Er will die Menschen dazu bringen; "mit ihren eigenen Augen zu schauen und mit ihren eigenen Ohren zu hören” und sie so zur wahren, unverdorbenen Erkenntnis geleiten. Nachdem die Menschheit das Stadium der Kindheit überwunden hat, ist sie nun in das Stadium der Reife getreten. Von so hoher Warte aus ist es klar, dass die Bahá’í—Lehre keine starre Form des Glaubens erwartet. Nicht alle Menschen sind gleich reif, und erst allmähliche Entwickelung vermag die Erfüllung zu bringen. Die 'Bahá’í-Lehre erkennt ihre Aufgabe darin, dass sie den Menschen mit der göttlichen Offenbarung verbindet und ruft die Menschheit zusammen in der Arbeit für die menschliche Einheit. "Verkehret mit allen Völkern in Liebe und (geistigem) Dufthaùch. Gemeinschaft ist die Ursache der Einigkeit, und Einigkeit ist in der Welt die Quelle der Ordnung. Gesegnet sind die, die freundlich sind, und mit Liebe dienen.”2

“Bahá’u’lláh wendet sich an die ganze Menschheit,” sagt ‘Abdu’l-Bahá, “mit den Worten: ‘ihr seid alle Blätter an einem Zweige und Früchte von einem Baume,’ d.h. die Menschheit ist nichts als ein Baum, und die Nationen oder Völker sind wie die verschiedenen Aeste oder Zweige, die einzelnen Menschen aber wie seine Blüten und Früchte. . . . Bahá’u’lláh verkündigte die Einheit der menschlichen Welt, er tauchte alle in das Meer der göttlichen Grossmut.”

———————— 2Bahá’u’lláh, Worte der Weisheit.